Behandlungsgruppe 2: Patienten ohne Neurofibromatose Typ I (NF I) mit niedrigmalignen Gliomen in anderen Tumorlokalisationen

Zuletzt geändert: 23.04.2013 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e121857

In dieser Behandlungsgruppe werden Patienten berücksichtigt, die an einem niedrigmalignen Gliom des Großhirns, des Kleinhirns, des Hirnstamms oder des Rückenmarks erkrankt sind. Der Behandlungsablauf hängt vor allem von der Lage und Ausdehnung des Tumors, dem Ausmaß einer chirurgischen Tumorentfernung und dem Alter des Patienten ab:

Übersicht Behandlungsablauf

Tumoren des Groß- oder Kleinhirns: Bei Kindern mit Tumoren im Bereich des Groß- oder Kleinhirns ist in einem Großteil der Fälle eine vollständige Tumorentfernung möglich (bei niedrigmalignen Gliomen im Bereich der Großhirnrinde bei bis zu 95 % der Patienten, bei Tumoren des Kleinhirns bei circa 60 bis 90 % der Patienten). Eine zusätzliche, nicht-chirurgische Behandlung ist aus diesem Grund nur in Ausnahmefällen erforderlich [ABD1994] [DUE2002] [GNE2012] [GNE2003] [KUE2006] [POL1995].

Hirnstamm-Tumoren: Bei Patienten mit einem niedrigmalignen Gliom im Bereich des Hirnstamms sind die Möglichkeiten einer vollständigen neurochirurgischen Entfernung des Tumors selbst bei günstiger Lage begrenzt. Da der Hirnstamm lebenswichtige Hirnareale wie zum Beispiel das Atemzentrum enthält, ist das Risiko zusätzlicher neurologischer Ausfälle infolge eines chirurgischen Eingriffs hoch. Allerdings weisen viele Tumoren, auch wenn sie nur unvollständig entfernt werden können, längere Phasen der Stabilität auf, das heißt, die Tendenz zu weiterem Wachstum ist relativ gering. Eine Chemotherapie oder Strahlentherapie kann im Bedarfsfall dazu beitragen, ein Weiterwachsen des Tumors zu verhindern [GNE2003].

Tumoren des Rückenmarks: Bei Patienten mit einem niedrigmaligen Gliom des Rückenmarks kann in 40 bis 75 % der Fälle der Tumor vollständig oder zumindest fast vollständig neurochirurgisch entfernt werden. Ist eine weitgehende Tumorentfernung möglich, können die Tumorreste über lange Zeit stabil bleiben; bei alleiniger Biopsie kommt es meist rasch zum Weiterwachsen des Tumors (Tumorprogression). Eine Bestrahlung nach unvollständiger Tumorentfernung erhöht die Überlebensrate. Wie rückblickende Untersuchungen zeigen, scheint eine Chemotherapie zu einer Abnahme der Symptome zu führen. Insbesondere bei ausgedehnten Tumoren und Kindern unter acht Jahren ergibt sich dadurch die Möglichkeit, die Strahlentherapie mit ihren zusätzlichen Risiken für das Wachstum der Wirbelsäule und für die Entstehung von Strahlenschäden am Rückenmark zu verschieben [GNE2003].

Ob im Falle einer nicht-chirurgischen Behandlung eine Chemo- oder Strahlentherapie in Frage kommt, hängt in erster Linie vom Alter des Patienten ab:

  • Patienten unter dem achten Lebensjahr erhalten in aller Regel eine Chemotherapie. Ziel der Chemotherapie ist in diesem Fall vor allem der Aufschub einer Strahlenbehandlung. Ist bei Patienten dieser Altersgruppe eine interstitielle Strahlentherapie (Brachytherapie) möglich (siehe unten), kann auch eine Strahlentherapie in Frage kommen.
  • Bei Kindern ab acht Jahren ist, wenn keine Metastasierung (Disseminierung) vorliegt, die Strahlentherapie die bevorzugte Form der Behandlung. Unter Umständen kann auch eine Chemotherapie erfolgen. Bei besonders großen Tumoren kann eine Chemotherapie das Ziel haben, den Tumor so zu verkleinern, dass anschließend eine Strahlentherapie oder eine Tumorentfernung möglich wird. Eine Chemotherapie kann auch dann versucht werden, wenn der Tumor bereits gestreut hat und die Metastasen außerhalb der Bestrahlungsgrenzen für den Ersttumor liegen oder wenn von Anfang an mehrere Bereiche des Zentralnervensystems von der Krankheit betroffen sind (multifokale Erkrankung).

Einzelheiten zur Behandlung bei Ersttherapie

Operation

Therapie der Wahl ist die Operation. Ob und inwieweit eine Operation möglich ist, hängt von der Lage und Ausdehnung des Tumors ab (siehe oben) und wird vom Neurochirurgen gemeinsam mit dem onkologischen Behandlungsteam festgelegt.

Kann der Tumor zum Zeitpunkt der Diagnose nicht vollständig entfernt werden und ergibt sich zu einem späteren Zeitpunkt, zum Beispiel im Laufe der Beobachtungszeit oder einer nicht-chirurgischen Behandlung, die Möglichkeit einer umfassenderen Tumorentfernung, so kann auch ein zweiter chirurgischer Eingriff in Erwägung gezogen werden. Voraussetzung ist allerdings, dass der Patient durch die Operation nicht gefährdet wird und keine schwerwiegenden Folgeschäden durch den Eingriff verursacht werden. Die Indikation für eine Operation wird für jeden Patienten individuell im Behandlungsteam diskutiert, das operative Vorgehen wird jedoch letzten Endes vom Neurochirurgen festgelegt.

Chemotherapie

Die Chemotherapie besteht aus zwei großen Therapieabschnitten: der Induktionsphase (Anfangsbehandlung; Induktionstherapie) und der Erhaltungsphase (Konsolidierungstherapie). Beide Behandlungsabschnitte sind wiederum in mehrere Behandlungsblöcke unterteilt. Die Induktionstherapie ist intensiver als die Konsolidierungstherapie und dauert insgesamt etwa sechs Monate. Die Konsolidierungstherapie dauert insgesamt etwa ein Jahr und ist auf die Erhaltung der (nach sechsmonatiger Induktionstherapie) erreichten Ergebnisse ausgerichtet. Die Gesamtdauer der Behandlung beträgt 18 Monate.

Das Ziel der Chemotherapie besteht in erster Linie darin, eine eventuell notwendige Strahlentherapie so lange wie möglich hinauszuschieben oder gänzlich zu vermeiden.

Erfahrungen aus der Vorläuferstudie und Literaturdaten zeigen, dass bei einem großen Teil (über 80 %) der Patienten mit einem Ansprechen auf die (in Europa etablierte) Standard-Chemotherapie mit den Medikamenten Carboplatin und Vincristin gerechnet werden kann. Für viele Patienten, besonders wenn die Tumoren im Bereich des Zwischenhirns angesiedelt sind, kommt es jedoch sehr bald wieder zu einem Tumorwachstum, so dass die Langzeitergebnisse mit dieser Standardbehandlung noch nicht zufrieden stellend sind. Andererseits ist unklar, auf welchem Weg die Wachstumstendenz niedrigmaligner Gliome am besten verhindert werden kann.

Da sich in früheren Studien angedeutet hat, dass eine Therapieverlängerung günstig ist, wurde im Vergleich zur Vorläuferstudie die Behandlung inzwischen für alle Kinder verlängert. Um aber insbesondere das frühzeitige Weiterwachsen (Progression) der Tumoren zu verhindern, soll im Rahmen der Therapieoptimierungsstudie SIOP-LGG 2004 geprüft werden, ob durch eine zusätzliche Intensivierung der Induktionstherapie (das heißt, durch Gabe eines dritten Zytostatikums) die spätere progressionsfreie Zeit verlängert werden kann. Patienten der Studie werden deshalb in der Anfangsphase der Behandlung zwei verschiedenen Chemotherapiearmen zugeordnet: einem Standardinduktionsarm und einem intensivierten Induktionsarm.

Randomisierung: Die Zuordnung der Patienten zu einem der beiden Behandlungsarme erfolgt nach dem Zufallsprinzip (per Losverfahren), um Verfälschungen der Behandlungsergebnisse durch äußere Einflüsse zu vermeiden. Dieses Vorgehen wird auch als Randomisierung bezeichnet. Die Randomisierung erfolgt durch die Studienzentrale nach schriftlicher Einverständniserklärung des Patienten beziehungsweise seiner Sorgeberechtigten.

Standardinduktionsarm

Im Standardinduktionsarm werden alle Patienten über einen Zeitraum von insgesamt zehn Wochen einmal wöchentlich mit dem Medikament Vincristin und alle drei Wochen mit dem Medikament Carboplatin behandelt. Nach einer dreiwöchigen Therapiepause folgen im Vier-Wochen-Rhythmus drei weitere Behandlungseinheiten mit den beiden Medikamenten Carboplatin und Vincristin. Insgesamt dauert die Induktionstherapie 21 Wochen (knapp sechs Monate). An die Induktionstherapie schließt sich eine dreiwöchige Therapiepause an.

Intensivierter Induktionsarm

Im intensivierten Induktionsarm erhalten ebenfalls alle Patienten über einen Zeitraum von insgesamt zehn Wochen einmal wöchentlich das Medikament Vincristin. Anders als im Standardinduktionsarm wird jedoch zusätzlich zu Carboplatin, das alle drei Wochen verabreicht wird, das Zytostatikum Etoposid gegeben. Es wird wie Carboplatin im dreiwöchentlichen Abstand, dann aber jeweils an drei aufeinander folgenden Tagen verabreicht. Die anschließende Behandlung entspricht der im Standardinduktionsarm, das heißt: Nach einer dreiwöchigen Therapiepause folgen im Vier-Wochen-Rhythmus drei weitere Behandlungseinheiten mit den beiden Medikamenten Carboplatin und Vincristin. Insgesamt dauert die Induktionstherapie 21 Wochen (knapp sechs Monate). An die Induktionstherapie schließt sich eine dreiwöchige Therapiepause an.

Konsolidierungstherapie

Die Konsolidierungstherapie, die sich nach der Therapiepause an die Induktionstherapie anschließt, ist für alle Patienten gleich. Sie erfolgt wiederum mit den Medikamenten Carboplatin und Vincristin, die bis zu einer Gesamtbehandlungsdauer von 18 Monaten weiter verabreicht werden. Allerdings sind die Abstände zwischen den einzelnen Behandlungszyklen (insgesamt zehn) länger als bei der Induktionstherapie: Carboplatin wird alle sechs Wochen einmal gegeben; die Behandlung mit Vincristin erfolgt über eine Dauer von jeweils drei Wochen einmal wöchentlich, anschließend folgt pro Behandlungszyklus eine dreiwöchige Therapiepause.

Tritt eine Unverträglichkeit gegen das Medikament Carboplatin auf, wird die Behandlung mit anderen Medikamentenkombinationen (Cisplatin/Vincristin und Cyclophosphamid/Vincristin) fortgesetzt; die Behandlungsintervalle und die Gesamtbehandlungszeit bleiben gleich.

Strahlentherapie

Ist eine Strahlentherapie angezeigt, so werden über einen Zeitraum von etwa sechs Wochen Strahlendosen von jeweils 1,8 Gy von außen auf die zu behandelnde Region eingestrahlt. Die Gesamtstrahlendosis beträgt 54 Gy (am Rückenmark nur 50,4 Gy). Die Wochenenden bleiben bestrahlungsfrei.

Ist eine interstitielle Strahlentherapie (Brachytherapie) möglich, wird radioaktives Material direkt in den Tumor implantiert. Diese Art der Bestrahlungsbehandlung erlaubt eine optimale Schonung des umgebenden gesunden Gewebes. Die Frage, ob ein Tumor durch Brachytherapie behandelt werden kann, hängt allerdings sehr stark von der Größe und dem Wachstumsverhalten des Tumors sowie seinem Sitz im Zentralnervensystem ab. Insgesamt wird die Entscheidung, ob eine Brachytherapie die optimale Behandlungsmöglichkeit ist, von Vertretern der Strahlentherapie, Neurochirurgie, Physik und Kinderkrebsheilkunde gemeinsam getroffen. Bei größeren Tumoren ist eine solche Behandlung aus physikalischen Gründen nicht durchführbar.

Einzelheiten zur Behandlung bei fortschreitendem Tumorwachstum (Tumorprogression)

Bei einem Teil der Patienten wächst der Tumor während oder nach Abschluss der Erstbehandlung weiter (Tumorprogression). In diesen Fällen wird versucht, durch eine andere beziehungsweise erneute Therapie das Tumorwachstum zum Stillstand zu bringen. Welche Behandlung zum Einsatz kommt, hängt unter anderem vom Zeitpunkt der Tumorprogression, vom Alter des Patienten und von der zuvor gegebenen Behandlung ab. (Die weiterführende Therapie ist ebenfalls in der Behandlungsstrategie der Studie SIOP-LGG 2004 vorgesehen beziehungsweise berücksichtigt.)

Tumorprogression während der Chemotherapie (frühe Progression)

Tritt noch während der ersten Chemotherapie eine Tumorprogression auf ("frühe Progression") und ist der Patient zu diesem Zeitpunkt jünger als acht Jahre, wird die Chemotherapie in der Regel mit einer anderen Zytostatikakombination fortgesetzt (Cisplatin/Vincristin oder Cyclophosphamid/Vincristin).

Bei Patienten ab dem achten Lebensjahr kann eine Strahlentherapie als Zweitbehandlung in Erwägung gezogen werden. Ist eine Strahlentherapie nicht möglich, erfolgt, wie bei jüngeren Patienten, eine Chemotherapie mit anderen Medikamentenkombinationen.

Tumorprogression nach Abschluss der Chemotherapie

Auch bei einer Tumorprogression nach Ende der Erstbehandlung spielt das Alter des Patienten bei der Wahl der Zweittherapie eine wichtige Rolle. Darüber hinaus wird aber auch berücksichtigt, wie lange die erste Behandlung zurückliegt und welche Art der Behandlung gegeben worden ist:

Patienten unter 8 Jahren: Patienten, die zum Zeitpunkt der Tumorprogression noch immer zur Altersgruppe der unter Achtjährigen gehören, erhalten in der Regel eine Chemotherapie. Welche Form der Chemotherapie eingesetzt wird, hängt unter anderem davon ab, wie viel Zeit seit der ersten Chemotherapie vergangen ist und wie gut der Patient diese Therapie vertragen hat: Liegt die erste Chemotherapie mehr als ein Jahr zurück, und hatte der Tumor auf die Therapie angesprochen, kann die Standard-Chemotherapie mit Carboplatin und Vincristin wiederholt werden (vorausgesetzt, es war keine Unverträglichkeit gegen das Medikament Carboplatin aufgetreten). Auch eine Chemotherapie mit anderen Medikamentenkombinationen ist möglich.

Kommt es schon vor Ablauf eines Jahres zu einer Tumorprogression oder trat während der Erstbehandlung eine Unverträglichkeit gegen Carboplatin auf, erfolgt in der Regel eine Chemotherapie mit anderen Zytostatikakombinationen. Spricht die Erkrankung auch auf diese Medikamente nicht (mehr) an, besteht die Möglichkeit, den Patienten im Rahmen einer experimentellen Studie (Phase-II-Studie) zu behandeln (zum Beispiel mit dem Zytostatikum Vinblastin). Bei Patienten, deren Tumor sich für eine interstitielle Strahlentherapie (Brachytherapie) eignet, kann auch eine Bestrahlungsbehandlung in Betracht kommen.

Patienten ab dem achten Lebensjahr erhalten als Zweitbehandlung in aller Regel eine Strahlentherapie.

Tumorprogression nach Strahlentherapie

Patienten, die im Rahmen der Erstbehandlung bestrahlt wurden, erhalten bei einem erneuten Tumorwachstum die Standard-Chemotherapie mit Vincristin und Carboplatin.