Wie wirken Zytostatika?
Autor: Dr. med. habil. Gesche Tallen, Redaktion: Maria Yiallouros, Freigabe: Prof. Dr. med. Dr. h.c. Günter Henze, Zuletzt geändert: 05.06.2020 https://kinderkrebsinfo.de/doi/e75220
Die so genannte Anti-Tumor-Wirkung eines Zytostatikums wird durch die typischen Eigenschaften der jeweiligen Substanzgruppe ausgelöst, zu der das Zytostatikum gehört. Die Eigenschaften einer Substanzgruppe wiederum beruhen auf der Struktur des zugrundeliegenden pflanzlichen und/oder chemischen Stoffes.
Um zu verstehen, wie ein Zytostatikum wirkt, muss man sich zunächst vorstellen können, wie eine teilungsfähige Zelle - egal ob gesund oder krank, gut- oder bösartig – lebt.
Das Leben einer Zelle wird von ihrem Zellzyklus bestimmt. Viele verschiedene Regelkreise in der Zelle, die sich gegenseitig beeinflussen und die auf dem Zusammenspiel unzähliger Eiweiße (Proteine) und/oder Gene mit verschiedenen Aufgaben beruhen, bestimmen in ihrer Gesamtheit – wie eine innere Uhr – die Phasen des Zellzyklus. Sie bestimmen damit, wann und wie oft die Zelle sich teilt, wann sie reift, wann sie "schläft", wann sie wieder "aufwacht" und sich erneut teilt, wann sie altert und wann sie stirbt. Das gesunde Zusammenspiel dieser Regelkreise ist in Krebszellen nicht mehr vorhanden: Sie haben die Eigenschaft, sich besonders schnell zu teilen und zu vermehren.
Chemotherapie und/oder Strahlentherapie (und viele andere äußere Einflüsse) verursachen einer teilungsfähigen Zelle enormen Stress. Grundsätzlich bedeutet Stress für eine Zelle, dass das Zusammenspiel ihrer Regelkreise, insbesondere derer, die für die Zellteilung verantwortlich sind, an bestimmten Ankerpunkten geschädigt wird, so dass sie nicht mehr ihrer inneren Uhr folgen kann. Kann die Zelle den Schaden nicht reparieren, so stirbt sie.
Die meisten molekularen Bausteine der verschiedenen Zytostatika-Substanzgruppen können nur in jene Phasen des Zellzyklus eingreifen, die direkt mit der Zellteilung in Verbindung stehen. Man spricht in diesem Fall von phasenspezifischen Zytostatika. Nur wenige Zytostatika sind in ihrer Wirkung weniger auf die Zellzyklusphase angewiesen, in der sich die Zelle gerade befindet (so genannte phasenunspezifische Zytostatika).
Somit schädigen die meisten Zytostatika – auf unterschiedliche Weise – ganz besonders die Zellen, die sich häufig teilen: Dazu gehören zum Beispiel bösartige Zellen, jedoch auch gesunde Zellen von Knochenmark und Mundschleimhaut sowie Haarwurzelzellen. Schnell wachsende Gewebe sind daher sehr sensibel gegenüber Zytostatika, so dass bösartige Tumoren im Allgemeinen erfolgreicher behandelt werden können als gutartige.
Auch in schnell wachsenden Geweben gibt es zeitweilig inaktive, ruhende Zellen, die gerade nicht am Teilungszyklus teilnehmen, dieses jedoch jederzeit wieder tun können. Um auch diese Tumorzellen zu erreichen, werden im Rahmen einer Krebsbehandlung phasenspezifische und phasenunspezifische Zytostatika miteinander kombiniert (Polychemotherapie).
Zytostatika stören den Zellstoffwechsel bei der Zellteilung (Mitose), können die Erbsubstanz und somit die Erbinformation zerstören und vieles mehr. Wenn die Krebszelle nachdem Zytostatika-Einfluss stirbt (programmierter Zelltod, Apoptose) oder zu einer gesunden Zelle ausreift (Differenzierung), hat die Chemotherapie gewirkt. Kann die Krebszelle den Schaden, den der "Zytostatika-Stress" verursacht hat, reparieren, wird sie resistent und die Behandlung verliert ihre Wirkung.